Tubeless am Rennrad -Marketingoffensive oder tatsächlich sinnvoll?

Als Laufradbauer werde ich immer wieder mit dem Thema des richtigen Reifensystems konfrontiert. Tubelessreifen sind zwar nicht mehr ganz neu auf dem Rennradmarkt, aber spätestens seit Conti sein Flagschiff unter den Rennradreifen, den Grand Prix 5000, auch als Tubelessvariante anbietet, nimmt das Thema auch bei meinen Kunden an Fahrt auf. Ferner versuchen Rennradreifenhersteller durch das Sponsoring von Profiteams die allgemeine Akzeptanz zu erhöhen. An erster Stelle seien hier Specialized und Vittoria genannt. So gewann Team Education First 2019 das Mannschaftszeitfahren der Tour of Colombia auf Vittoria Corsa Speed Tubeless Ready; Alexander Kristoff versuchte im gleichen Jahr, Paris-Roubaix auf Vittoria Corsa Control in Tubelessausführung zu bewältigen (was in die Hose ging); Team Deceunick Quickstep, bislang auf Specialized Turbo Cotton Tubular unterwegs, kündigte für den Verlauf der Saison 2020 den weitestgehenden Wechsel von Schlauch- auf Tubelessreifen an. Was bedeutet das nun für Otto-Normal-Rennradfahrer? Ist Tubeless das überlegende Reifensystem, an das zukünftig kein Weg vorbeiführt?

Landläufig werden drei Vorteile genannt: Erstens sei der Rollwiderstand von Tubelessreifen niedriger, weil im System weniger Reibung durch den fehlenden Schlauch entsteht. Zweitens dichte die in den Reifen eingefüllte Latexmilch kleinere Löcher ab und verhindere somit Reifenpannen. Drittens könne durch den fehlenden Schlauch mit weniger Luftdruck gefahren werden, was ein Mehr an Fahrkomfort zur Folge hat – und zwar ohne Rollwiderstand und Durchschlagsgefahr, von der ja in erster Linie der Schlauch betroffen ist, zu erhöhen.

Auf dem Papier spricht demnach alles für Tubelessreifen. Grau ist jedoch alle Theorie, wie es so schön heißt. Was sagt der Erfahrungscheck des Laufradbauers und aktiven Rennfahrers dazu?

Rollwiderstand

Nach objektiven Kriterien ist der Rollwiderstand für mich natürlich nur schwer validierbar. Man fühlt vielleicht richtig schlechte zu richtig guten Reifen. Aber in der Topklasse ist es schwierig, Unterschiede im wahrsten Sinne zu erfahren. Alle publizierten Tests, sei es im Tour Magazin, sei es in der Triathlon, sei es bei www.bicyclerollingresistance.com, legen allerdings nahe, dass der Rollwiderstand von Tubelessreifen bei gleichem Luftdruck niedriger ist als der von klassischen Clinchern. Krass fühlbar wird dieser Unterschied bei Crossern und Gravelrennern. Weil Durchschläge für keinen Schlauch mehr eine Gefahr darstellen, verbessert sich bei Tubeless durch die mögliche Luftreduktion der Rollwiderstand auf losem und unebenem Untergrund erheblich. Zumindest im Wettkampf-Cross-Sport sind allerdings nach wie vor geklebte Schlauchreifen das Maß aller Dinge hinsichtlich Rollwiderstand und Grip. Mit Tubeless ist man aber inzwischen nicht mehr gänzlich chancenlos. 

Pannensicherheit

Von seiner Grundkonstruktion her ist ein Tubelessreifen genauso pannenanfällig wie sein klassischer Clincherpendant in der Typenrangfolge ein und desselben Herstellers. Das Plus an Pannensicherheit resultiert einerseits aus der eingefüllten Latexmilch, die tatsächlich kleinere Durchstiche der Lauffläche abdichtet, andererseits aus der verbesserten Durchschlagsresistenz, weil kein empfindlicher Schlauch mehr am Felgenhorn gequetscht werden kann. Gänzlich gefeit sind Tubelessreifen aber nicht gegen Durchschläge. Gerade die Seitenflanken hochwertiger Tubelessreifen sind aus dünnem, verletzlichem Material gefertigt, so dass richtig starke Durchschläge zu Löchern in den Seiten führen, die Latexmilch nach meiner Erfahrung nicht mehr abdichten kann. Mit seinen Vittoria Tubelessreifen hatte Alexander Kristoff bei Paris-Roubaix letztes Jahr einige Plattfüße auf Pavésektoren – ich meine mich zu erinnern, es waren drei – und kam deswegen abgeschlagen als 56. ins Ziel. Gut möglich, dass dies solche Durchschläge waren. Bei Paris-Roubaix ist das umbaute Volumen der eingesetzten Reifen mit 25 bis 30 mm Reifenbreite nochmals geringer als bei einem Wettkampfcrosser mit UCI erlaubten 33 mm. Mit Highspeed in ein Pavéstücke hinein oder hindurch scheint solche vergleichsweise schmalen Tubelessreifen übers Limit hinauszubringen. Hier scheinen mir Schlauchreifen nach wie vor überlegen, weil durch das fehlende Felgenhorn der Schlauchreifenfelgen die Zerquetschungsgefahr des Reifens geringer ist. Was lernen wir daraus? Tubeless ist kein Freifahrtschein gegen Durchschläge. Wer plant, mit niedrigem Luftdruck unterwegs zu sein, d.h. unter den üblichen sechs bis acht Bar beim Straßenrennrad, sollte auch bei Tubeless beherzigen: je größer das umbaute Volumen des Reifens, desto sicherer fährt man hinsichtlich der Gefahr von Durchschlägen. Grundsätzlich ist dabei schlauchlos durchschlagssicherer als mit Schlauch.

Last but not least sollte der felgengebremste Hochgebirgsjunkie, sofern er auf Alulaufrädern unterwegs ist, einen Gedanken an Tubelessreifen verschwenden. Besteht bei ihnen doch keine Gefahr von durch Überhitzung geplatzten Schläuchen während oder nach Passabfahrten. Dicke, hitzebeständige Schläuche und dickes, isolierendes Felgenband können entfallen und reduzieren die rotierende Masse.

Komfort

Der Komfortgewinn spielt für mich als altgedienter Radrennfahrer eine nicht so große Rolle wie ein verringter Rollwiderstand. Ist der durch einen geringeren Luftdruck zu erzielen, wie zum Beispiel beim Crosser, zögere ich keine Sekunde; er steht aber nicht im Zentrum meiner Überlegungen. Derjenige, für den er das aber tut, fährt mit Tubeless, wie bereites gesagt, einen Deut sicherer und rollt dabei leichter als mit Schlauch.   

Nachteile

Ungemach droht, ist ein Cut zu groß, und es kommt mit einem Tubelessreifen zu einem Plattfuß. Dann nämlich fängt die Zeit der Schmiererei an. Zunächst sprüht der verhältnismäßig hohe Luftdruck im Reifen die Latexmilch fein zerstäubt über Fahrrad und – hat man Pech – Fahrer. Vielleicht lässt sich das mit dickflüssiger Milch verhindern, kann man sie jedoch übers Ventil einfüllen, ist die Wahrscheinlichkeit für diese Dusche recht hoch. Sodann gilt es, nachdem man die schmierige Innenseite des Reifens nach der Ursache des Plattfußes abgesucht hat, einen Schlauch in den immer noch schmierigen Reifen einzuziehen. Das geht nicht ohne ebensolche schmierigen Hände. Das Tubelessventil muss vorher auch noch aus der Felge herausgeschraubt werden. Manchmal schwierig mit schmierig… 

Da man ja irgendwann den bei der Panne eingezogenen (und damit ebenfalls schmierigen) Schlauch wieder tubelessmäßig weglassen möchte, komme ich an dieser Stelle auch kurz auf die oftmals komplizierte Montage von Tubelessreifen zu sprechen. Das Problem ist dabei in der Regel die initiale Abdichtung der Reifenwulst in der mittleren Vertiefung des Felgenbettes, bevor der Reifen durch den Luftdruck auf die beiden Schultern des Felgenbettes in seinen Sitz gedrückt wird. Dichtet die Reifenwulst in Ausgangslage nicht richtig ab, entweicht Luft und der Reifen springt nicht in seine Endposition. Das ist gerade bei schon länger montierten Reifen und fest angedrücktem Felgenband nicht immer ganz einfach. Deshalb braucht es einen starken Kompressor oder ein mit hohem Druck aufgepumptes Reservoir. Oftmals ist eine weitere Lage Felgenband nötig, um wieder Liderung zwischen Reifenwulst und Felgenbett herzustellen. Das kann man aber nicht einfach über das mit Latexmilch beschmierte alte Felgenband kleben, sondern muss vorher alles gründlich reinigen und entfetten. Also alles in allem nicht so einfach wie mit klassischen Clincherreifen.

Fazit

Die versprochenen Vorteile von Tubelessreifen sind definitiv kein Blödsinn, tendenziell haben sie jedoch einen deutlicheren Effekt bei großvolumigen Reifen ab vielleicht 30 mm Breite, gefahren mit komfortbetonenden Luftdrücken. Für den gewöhnlichen Rennradreifen zwischen 23 und 28 mm, gefahren mit gewöhnlichen Luftdrücken, haben sie zwar gleichfalls Gültigkeit. Dennoch kann der Tubelessreifen den klassische Clincher nicht so deutlich in den Schatten stellen, um im Alltagsbetrieb den hohem Aufwand von Montage und Wiedermontage aufzuwiegen. Anders sieht es meines Erachtens bei Wettkampflaufrädern aus. Hier lässt der kleine Performancegewinn durchaus den komplizierten Umgang mit Tubelessreifen rechtfertigen. Das Gleiche gilt bei Alulaufräder für Felgenbremse, die im Hochgebirge gefahren werden.