Schlauchreifen am Rennrad - verstaubte Uraltechnik oder nach wie vor brauchbar?

Schlauchreifen sind Urgesteine der Fahrradbereifung. Die ersten auf die Felge geklebten „Single Tube“ Fahrradreifen nannten sich Boothroyd; 1892 brachte Continental eine verbesserte Version dieser Boothroyd auf den Markt. Es scheinen einteilige, dickwandige Konstruktionen aus gummierten Gewebe gewesen zu sein. Wann der „Tubular“ seine heutige Form bekommen hat, d.h. den um den Schlauch herumgelegten und zusammengenähten Mantel, bleibt für mich im Dunkeln. Spätestens seit den 1920er Jahren scheinen sie aber in dieser Form  – man möge mich korrigieren – Standard an Rennrädern professioneller Straßenfahrer gewesen zu sein.

In seiner Urversion seit Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Markt blickt der Schlauchreifen also auf eine extrem lange Karriere zurück. Auch heutzutage wird beinahe jedes professionelle Straßenradrennen mit Massenstart auf Schlauchreifen gewonnen, zudem sehr viele Zeitfahren (wenn auch nicht mehr alle) und wirklich jedes auch nur halbwegs hochkarätige Cyclocrossrennen. Man könnte quasi vom langen 20. Jahrhundert in der Reifentechnik sprechen. Was also macht Schlauchreifen zu einer solchen radsportechnischen Konstante, dass mit ihnen immer noch kurvengespickte Gebirgspässe mit manchmal dreistelligen km/h-Zahlen heruntergebrettert werden? Was hat schließlich Otto-Normal-Rennradfahrer von dieser über ein Jahrhundert alten Erfahrung mit geklebten Reifen?

Totgesagte leben länger

Der Beantwortung vorwegschicken möchte ich meine Beobachtungen aus der Zeit ab Mitte/Ende der 90er bis Anfang der Nullerjahre, als Carbonlaufradsätze selten, teuer und nicht bremssicher waren. Zugleich kamen Faltreifen auf den Markt, die es hinsichtlich der meisten Performance-Parameter mit Schlauchreifen aufnehmen konnten. Manchem Fahrradjournalisten schien damals die letzte Stunde des Tubulars geschlagen. Erst als leichte Felgen aus Carbon erschwinglicher sowie halbwegs bremssicher wurden und damit eine größere Käuferschicht ansprachen, erlebte der Schlauchreifen eine Renaissance. Carbonfelgen für Clincherreifen, also Draht-/Faltreifen, kamen zu jener Zeit absolut nicht in Frage, weil sie einfach unsicher waren. Deren Felgenhorn litt an massivem Materialstress, verursacht durch die Kombination aus Bremshitze, die zunächst das Epoxidharz des Carbons weich werden ließ, und Reifendruck, der sodann die Felgenhörner auseinanderdrückte. Die damalige Lösung waren Hybridfelgen aus Alubremsflanke und Carbonfelgenkörper, aber sie waren vergleichsweise schwer. Zwar bekamen mit der Zeit viele Hersteller das Stabilitäts-/Hitzeproblem des Horns aus Carbon halbwegs in den Griff – wenn auch immer noch nicht alle, wie ein Bremslasttest im Tour Magazin 4/19 anschaulich zeigt. Mit Einführung der Scheibenbremse am Straßenrennrad entfällt diese Schwachstelle jedoch komplett. Dies befördert nicht nur den Versuch, das Tubelessreifensystem im Rennradsegment breit einzuführen, sondern lässt auch erneut den Abgesang auf den Schlauchreifen anstimmen. Aber wird das Produkt Schlauchreifen von der Fahrradindustrie auch nicht mehr richtig gemocht, bisweilen tot geschrieben und in vielen Reifentests ignoriert, aus dem Profisport ist er nicht wegzudenken. Hier stellt er noch wie vor das Standardreifensystem dar. Entsprechende Begehrlichkeiten beim Endverbraucher sind die Folge. Woraus resultiert dieses Persistenz des Schlauchreifens? Die Beantwortung dieser Frage beantwortet zugleich jene nach seinen Vor- und Nachteilen und seiner Praktikabilität für Otto-Normal-Rennradfahrer.

Vorteile

Auf der Habenseite des Schlauchreifens stehen seine exzellenten Notlaufeigenschaften im Vergleich zu den anderen Reifensystemen, das niedrigere Gewicht der Schlauchreifenfelge und bei Felgenbremsen ihre deutlich bessere Resistenz gegen Bremshitze. Bei Crossrennrädern für den UCI-konformen Einsatz, d.h. Reifenbreite bis 33 mm, ist der Dreiklang aus Haftung, Rolleigenschaften und Durchschlagsresistenz unübertroffen. Erst jenseits dieser Reifenbreite können Tubelessreifen ihre Stärken richtig ausspielen.

Die Notlaufeigenschaften liegen in der Art und Weise begründet, wie Felge und Reifen verbunden werden. Schlauchreifen werden bekanntlich auf die Felge geklebt, entweder mit einem speziellen Kleber, Kitt genannt, oder doppelseitigem Klebeband, wobei letzteres im professionellen Radsport keine Verwendung findet. Diese Klebeverbindung, wenn nicht zu alt, verhindert wirkungsvoll, dass ein platt gefahrener Reifen von der Felge springt. Seine Notlaufeigenschaft sind dementsprechend unübertroffen; zudem verlieren Schlauchreifen fast nie schlagartig Luft, vermutlich weil sie ihre Zeit braucht, bis sie aus dem geschlossenen System entwichen ist.  Keine unwichtigen Eigenschaft in einem 150 bis 200 Mann/Frau starken Feld, in dem dicht an dicht gefahren wird und man tunlichst die Kontrolle über sein Rad behalten möchte. Auch ist im Defektfall der Zeitverlust geringer, weil man sich nicht an den Straßenrand stellen und warten muss, sondern hinter dem Feld solange herfahren kann, bis der eigene Materialwagen aufgeschlossen hat. Legendär ist diesbezüglich Abraham Olano, Profi-Weltmeister 1995 in Duitama/Kolumbien. Als Solist mit knappem Vorsprung konnte er trotz eines mehrere Kilometer vor dem Ziel platt gefahrenen Hinter(schlauch)reifens das Rennen für sich entscheiden (Youtube Video ab 1:55). Auf Clincher- oder Tubelessreifen schier unmöglich, der Sieg wäre verloren gewesen.

Die weiteren genannten Vorteile gehen aufs Konto der Schlauchreifenfelge, deren Aufbau ohne nennenswerte Felgenhörner auskommt. Die fehlenden Hörner reduzieren das Gewicht bei Carbonfelgen um 200 g +/- pro Laufradsatz. Gerade in Zeiten der Scheibenbremse ein nicht unerheblicher Gewichtsvorteil. Sodann setzen bei Felgenbremsen Bremshitze und Reifendruck keinem Felgenhorn zu. Vielmehr öffnet sich hinter dem Reibring der Hohlraum des Felgenkörpers, was die Bremshitze besser ableiten lässt als bei einer Clincher-/Tubelessfelge, in der sie eher gefangen ist. Zu guter Letzt verhindert bis zu einer Reifenbreite von ca. 35 mm das fehlende Felgenhorn ein Zerquetschen des Schlauchs oder Tubelessreifens bei einem Durchschlag, wobei letzterer in dieser Hinsicht – das möchte ich ausdrücklich betonen – schon deutlich näher am Schlauchreifen ist.

Nachteile

Die Nachteile des Schlauchreifens im Alltag ergeben sich aus seinem größten Vorteil, nämlich der geschlossenen Bauweise und der daraus resultierenden geklebten Verbindung zwischen Reifen und Felge. Schon die Verklebung beider Komponenten im Neuzustand ist eine langwierige Prozedur, insbesondere wenn man dazu Reifenkitt benutzt. Ferner hält sie nicht ewig, sondern muss regelmäßig erneuert werden, soll ein Abspringen des Reifens von der Felge in scharf gefahrenen Kurven verhindert werden. Da hilft nur viel Erfahrung oder ein Mechanikerstab im Hintergrund. Nicht einfacher ist es im Defektfall, wenn kein begleitender Materialwagen für ein Ersatzlaufrad sorgt oder – wie im Crossrennen – man das Materialdepot zum Radwechsel ansteuern kann. Hat man solche Lösungen nicht zur Verfügung, muss der defekte Reifen von der Felge ab-, bei guter Klebeverbindung schon ein ordentlicher Akt, und der neue Reifen aufgezogen werden. Nachteil 1, der Reifen hat dann keine richtige Klebeverbindung mehr, bei der Weiterfahrt sollte man sein Rad nur noch mit Bedacht um Kurven fahren; zudem wird der Rollwiderstand ohne feste Klebung deutlich erhöht sein. Nachteil 2, der Ersatzreifen ist kein kleines handliches Stück Butyl, sondern ein Trümmer von Reifen, das nur schwer in Trikot- oder Satteltasche passt, fast schon Rucksack oder Packtasche bedarf. Nachteil 3, der defekte Reifen ist nur unter großem zeitlichen und näherischen Aufwand zu Hause zu reparieren, in der Regel kauft man einfach einen neuen; hochwertige Schlauchreifen sind allerdings kein Sonderangebot. Diese Schwierigkeiten bei der Defektbehebung erklären auch, warum sich in radsportlichen Disziplinen, in denen keine Materialunterstützung von außen erlaubt war oder ist, namentlich bei MTB-Rennen und im Triathlon, Schlauchreifen nie richtig durchsetzen konnten.

Als weiteres Argument gegen den Schlauchreifen wird sein höherer Rollwiderstand auf Asphalt angeführt. Ich möchte jetzt gar nicht weiter auf die Realitätsnähe oder -ferne von Testaufbauten eingehen. Immerhin wird auf der Seite www.bicyclerollingresistance.com deutlich, dass die Schlauchreifen von Vittoria den Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Zwar sind Zeitfahrreifen in Tubelessausführung führend in dieser Disziplin, aber dicht gefolgt von zumindest einem Tubular, dem Vittoria Corsa Speed. Auch bei den Allroundreifen schlagen sich die „einfachen“ Vittoria Corsa Schlauchreifen ziemlich gut. Gespannt wäre ich vor allem auf die Ergebnisse der exklusiven „Pro LTD“-Ausführungen von Continentals Competition mit ihren 3/200 TPI Karkassen und Latexschläuchen. Leider stehen sie nur den World Tour Teams zur Verfügung…

Fazit

Welcher normale Rennradfahrer braucht nun Schlauchreifen? Aufgrund mangelnder Praktikabilität spricht wenig für sie. Für die aller meisten Menschentypen und Einsatzarten erscheinen mir Clincher- oder Tubelessreifen als deutlich anwendungssichere, alltagstauglichere und preiswertere Alternative. Bis auf das leicht erhöhte Gewicht des Reifen-Laufrad-Systems und den schlechteren Notlaufeigenschaften ergeben sich keinerlei Nachteile, der Rollwiderstand ist oftmals sogar geringer. Trotz der besseren Hitzeableitung von Schlauchreifenfelgen aus Carbon würde ich ebenso demjenigen, der viel im Hochgebirge und dort nicht nur auf abgesperrten Strecken unterwegs ist, Alufelgen mit Tubelessreifen oder Rennräder mit Scheibenbremse empfehlen. Für wen gibt es dann überhaupt noch Tubulars, außer für im heiklen Technikumgang voll umsorgte Radprofis? Vermutlich am ehesten für den traditionsbewussten Nostalgiker, der die vielschrittige Prozedur des Reifenklebens als Kontemplation ansieht. Dazu kommt der betörende Geruch des Kitts… Zu dieser Randgruppe würde ich mich zählen;-). Nebenbei gerne mitgenommen werden die 200 g Gewichtsersparnis; nicht unerheblich, sodann noch an rotierenden Teilen. Deshalb sollte eventuell auch der 58 kg Bergfloh, der ganz vorne beim Ötztaler landen möchte und keine Angst vor Defekten hat, über Schlauchreifen nachdenken. Wenn er mit Scheibenbremse unterwegs ist, sowieso, um das Mehrgewicht der Bremsen ansatzweise zu egalisieren. Das gleiche gilt wohl für die Wettkampflaufräder des passionierten Bergzeitfahrers und auch Bahnfahrers. Ersterer profitiert wiederum vom Gewichtsvorteil, letzterer von den hohen Drücken, die Schlauchreifen verkraften, und der Schmalheit, in der gerade Bahnschlauchreifen noch produziert werden; auf diese Weise wird die Aerodynamik verbessert ohne den Rollwiderstand auf glatten Bahnbelägen wie Holz oder Beton zu erhöhen. Auch einige Rundstreckenrenn- bzw. Kriteriumsfahrer vertrauen an ihren Rennlaufradsätzen auf Schlauchreifen, gelten doch manche Modelle in der Szene als wahre Haftungswunder. Schließlich kommt kein passionierter Cyclocrosser an Schlauchreifen vorbei, wenn er in Rennen die überragenden und wettbewerbsentscheidenden Fahreigenschaften haben möchte.

Vermutlich werden diese mainstreamerischen Devianten zusammengenommen dafür sorgen, dass der Schlauchreifen auch die nächsten Jahre überdauern wird. Denn gerade aufgrund der gewissen Exklusivität finden viele Anwender Schlauchreifen einfach cool. Es ist aber letztlich ein Spezialprodukt mit sehr spezifischen Vor- und einer breiten Palette an Nachteilen, das, aufs Ganze betrachtet, nur eine überschaubare Käuferzahl anspricht. Die kostenoptimierten Großen der Branche fangen teilweise schon an, die Produktion von Reifen und Felgen einzustellen. Es bleibt zu hoffen, dass dies kleinere Anbieter eher stärken als schwächen wird.