ABNEHMENDER GRENZNUTZEN? ANMERKUNGEN ZUR SRAM RED ETAP AXS

 

Gleich als Zweites möchte ich nicht aus meiner geliebten Cuisine de Roues berichten, sondern aus der Werkstatt des Pressedienst Fahrrads (PD-F), für den ich den technischen Part der Testräder mitsamt Werkstatt betreue. Mir war es vergönnt, schon 10 Tage vor dem offiziellen Launch der oben genannten Gruppe ein entsprechendes Testrad von Sram in die Finger zu bekommen. Die neue Gruppe ist natürlich auf den ersten Blick ein echter Innovationsträger: funkgesteuerter 12-fach Antrieb, integrierte Leistungsmessung, kabelloses Systemmanagement via App. Was denkt nun der seit über 30 Jahren aktive Laufradbauer, Rennradenthusiast und Radrennsportler darüber? Sinnvoll oder Spielerei, um dem abnehmenden Grenznutzen bei Fahrradkomponenten etwas entgegenzusetzen?

Laufradbauer:

Eigentlich ganz geil! Durch den XDR-Freilaufkörper lassen sich viele 11-fach tauglichen Naben problemlos auf den schon aus dem Sram MTB Bereich bekannten Standard umrüsten; zumindest bei den nicht modular aufgebauten Naben aus dem Hause Shimano wird dies jedoch schwierig.  Hinterräder sind also in vielen Fällen weiter benutzbar, lediglich ein neuer Freilaufkörper muss verbaut werden. Da es von der Red AXS auch eine Felgenbremsversion geben wird, gilt dies für etliche Naben bzw. Laufräder. Die Montage einer XDR-Kassette ist denkbar einfach, die Teile selbst sind schöne, leichte und dennoch langlebige Stahlkonstruktionen mit angenieteten Bergritzeln aus Alu.

Rennradenthusiast:

Da ich beim Straßenrennrad/Zeitfahrrad von der Scheibenbremstechnik noch nicht so richtig überzeugt bin, freut es mich, dass es eine Felgenbremsversion gibt. Die Schalthebel der Rennradgruppe können das ebenfalls neu herausgebrachte Sram Eagle eTap MTB Schaltwerk anfunken, sind demnach mit dem MTB Antrieb kompatibel. D.h. hinten stehen bis zu 50 Zähne zur Verfügung. Sicherlich ist das eine gute Sache für die Dropbarfraktion abseits des Aspahltbandes, die Gravel- und Crossbikepiloten, und die vielen Hochgebirgsjunkies. Die 1-fach Antriebe für Dropbars bekommen schließlich durch 12-fach kleinere Gangsprünge bei gleicher Übersetzungsbandbreite. Umgekehrt gilt übrigens das Gleiche, d.h. wem der 1 x 12 MTB Antrieb nicht reicht, kann jetzt auch 2 x 12 vollgefedert fahren. Letztlich scheint sehr viel miteinander kombinierbar zu sein. Das finde ich richtig gut!

Radrennfahrer:

Als Straßenrennfahrer und Zeitfahrer beunruhigt mich die Verzwergung des Antriebes: 50/37, 48/35 und 46/33 vorne und wahlweise 10-26/28/33 hinten sind von der Übersetzungsbandbreite absolut top. Auch die Schaltschritte sind klein. ABER: Was ist mit dem Polygoneffekt? Seine Bedeutung nimmt mit kleinerer Zähnezahl zu. Je kleiner demnach die Polygone (Vielecke) des Antriebes, desto größer die Reibungsverluste der Kette. 48-14 ist demnach weniger optimal als beispielsweise 54-15. Genau deswegen fahren sehr viele Profis und Amateurlizenzfahrer im Zeitfahren 56er oder 58er Kettenblätter. Nicht, weil sie die ganze Zeit 58/11 treten wollen oder können, sondern weil die gefahrenen Ritzel hinten dann ein, zwei Zähne größer sind als bei einem 53er oder 54er Kettenblatt; von einem 48er oder 50er Blatt ganz zu schweigen. Große Kettenblätter vermindern Kettenreibung. Reibungsfördernder Kettenschräglauf kann so ebenfalls effektiv vermieden werden. Diesbezüglich halte ich den 12-fach Antrieb von Campa für sinnvoller: vorne an der Kurbel und hinten am kleinen Ende haben die Italiener alles so gelassen wie es ist, in der Mitte haben sie verdichtet, nach oben leicht vergrößert.   

Fazit – oder: braucht es einen 12-fach Antrieb? 

Wenn man vorne nur mit einem Kettenblatt unterwegs sein möchte auf jeden Fall! Dann wären sogar 13 Ritzel wünschenswert, um möglichst kleine Schaltschritte zu haben. Die Sram eTap mit zwei Kettenblättern hat mit ihrer Abstufung fürs Rennrad ebenfalls sehr kleinschrittige und große Bandbreiten. Durch die möglichen 1- und 2-fach Kettenblattkombis und die drei Kassetten ergibt sich bei Sram eine sehr große Übersetzungsvielfalt, die quasi allen Belangen der Nutzer gerecht wird. Nimmt man die Eagle MTB Komponenten hinzu, lässt sich diese Vielfalt sogar noch weiter steigern. Mit einem einzigen Getriebe lassen sich problemlos die fahrerischen Ansprüche von der Waterkant bis ins Hochgebirge vorhalten, und dass für unterschiedlichste Leistungs- und Fahrradklassen.

Ich für meinen Teil fand bei einem klassischen Rennradgetriebe den Schritt von 10- zu 11-fach schon deutlich unspannender als von 9- zu 10-fach. Abnehmenden Grenznutzen kann ich für mich persönlich – als Mittelgebirgsbewohner mit halbwegs Druck auf der Kette – also voll und ganz konstatieren. Vielleicht liegt es auch am zunehmenden Alter, was einen ruhiger werden lässt in solchen Dingen:-). Zwar ist es bei 11-fach schön, in der Kombi aus 53/39 und 11-28 den „16er“ an Bord zu haben. Das Ritzel ist in Trainung und Rennen ein viel und gern gefahrenes. Da z.B. die 11-fach 11-28 Kassetten von Shimano dies jedoch nicht einmal haben – Sram im Übrigen schon – fällt dann sogar dieses Argument weg. Kurzum, die engere Gangabstufung der beiden neuen 12-fach Getriebe ist durchaus attraktiv, die überragende Systemvielfalt der Red AXS Komponenten ist beeindruckend. Wirklich vermisst habe ich beides bislang nicht.

Wer sich jetzt ein neues Rad kaufen möchte und bereit ist, den im Zweifelsfall nötigen Aufpreis im Vergleich zu den Mitbewerbern auf den Ladentresen zu legen, für wen ferner als Nicht-Zeitfahrer „Polygoneffekt“ nur ein Fremdwort ist und bleibt, der sollte über die AXS nachdenken. Die Systemvielfalt ist bemerkenswert. Der UVP für die unterschiedlichen Konfigurationen der Komplettgruppen ist auf jeden Fall nicht ganz ohne. Vermutlich fallen die Preise aber noch bei den einschlägigen Netzdiscountern. Aber selbst an dieser Stelle bewegt sich offenbar was. Wie die Plattform rennrad-news.de berichtet, befände sich die Sram Force eTap AXS in der Entwicklung. Ich bleibe gespannt!